Rudolf Steiner über die alte Yoga-Kultur und den neuen Yoga-Wille

Vom 21. November bis 15. Dezember 1919 hielt Rudolf Steiner in Dornach eine Reihe von Vorträgen über die Sendung des Erzengels Michael und die bevorstehende Michael-Kultur. Am 30. November sprach er in diesem Zusammenhang vom Übergang von einer alten Yoga-Kultur zu einem neuen Yoga-Willen. Aus seinen geisteswissenschaftlichen Forschungen beschreibt er die Entwicklung der Menschheit und wie sich das Verhältnis des Menschen zum Geistigen, zum Kosmos oder anders ausgedrückt zu Gott über die Jahrtausende hinweg stufenweise verändert hat und wie der indische Yoga in diesem Entwicklungsstrom darinnen steht. Dabei bezeichnet er diesen als ein heute nicht mehr zeitgemäßes atavistisches Zurückgehen in vergangene Entwicklungsstufen. Im Folgenden soll seine Darstellung der wesentlichen Veränderungen sowohl beim Menschen selbst als auch in den kosmischen Einflüssen mit einfachen Worten skizziert werden.

Demnach empfanden die Menschen im 4. bis 5. Jahrtausend vor Christus, also vor etwa 7000 Jahren völlig anders als heute. Sie erlebten die Naturgewalten und geistigen Gewalten nicht getrennt, sondern als Eines. Der Gott im Äußeren, in der Natur war zugleich der Gott im Inneren des Menschen. Der Mensch erlebte sich als Einheit mit dem Geistigen.

Zwei Jahrtausende später empfand der Mensch sich selbst und die Natur in einem veränderten Verhältnis. Es wurde der Gott in der Natur und der Gott im Menschen unterschieden, welcher aber derselbe war. „Man sagte, wenn ein Baum sich schüttelt, das ist der Gott außerhalb, und wenn ich meinen Arm bewege, das ist der Gott innerhalb. Wenn ich Luft einziehe, innerlich verarbeite und wiederum nach außen lasse, dann ist das der Gott von außen, der hereingeht und wiederum hinausgeht. So empfand man dasselbe Göttliche draußen, drinnen, aber in einem Punkt zugleich draußen, drinnen. Man sagte sich: Indem ich Atmungswesen bin, bin ich zugleich ein Wesen der Natur draußen, zu gleicher Zeit ich selbst.“1 Draußen und drinnen überkreuzen sich im Atmungsprozess.

800 Jahre vor Christus beginnt wieder ein anderes Zeitalter, in dem sich der Mensch nun getrennt fühlt von der Natur und das menschliche Dasein und das Naturdasein als Gegensätze erlebt. „Auf der einen Seite empfindet er das Äußere, auf der anderen Seite das Innere, und zwischen beiden ist nicht mehr der überkreuzende Punkt.“2 Das was der Mensch gemeinsam hat mit der Natur, entzieht sich nun seinem Bewusstsein, es ging verloren das Bewusstsein des Atmungsprozesses als Überkreuzungspunkt.

Rudolf Steiner beschreibt nun, wie die indische Yogakultur danach strebt, dieses verloren gegangene Bewusstsein wieder zu erlangen. Es sollte der Atemprozess wieder in das Bewusstsein gebracht werden, in welchem man sich zugleich draußen und drinnen gefühlt hatte. Eine gravierende Veränderung war jedoch im Weltengeschehen eingetreten, die ein Zurückkehren auf die vergangene Stufe unmöglich macht. Als der Mensch im Atmungsprozess den Überkreuzungspunkt zwischen dem Gott außen und dem Gott innen empfand, da war die Luft noch „beseelt“, wie er es nennt. In dieser vergangenen Zeit „… atmete der Mensch noch Seele, jetzt atmet er Luft. Nicht bloß etwa unsere Vorstellungen sind materialistisch geworden, die Realität selber hat ihre Seele verloren. …. in der Atmosphäre der Erde war Seele. Die Luft war die Seele. Das ist sie heute nicht mehr. … dasjenige, was in der normalen Atmung vor drei Jahrtausenden erlangbar war, das kann nicht auf künstliche Weise zurückgebracht werden.“3 Rudolf Steiner beschreibt, wie durch das Einatmen des Seelischen der Mensch „ein Bewusstsein von der Präexistenz des Seelischen, von dem Bestehen der Seele, bevor sie heruntergestiegen ist in den physischen Leib durch die Geburt …“4 hatte, welches nun nicht mehr vorhanden ist.

Im Atemprozess erlangte der Mensch ein Verständnis der Außenwelt und die indische Yogakultur suchte dieses Verständnis wieder zu erlangen, „… denn dadurch, dass der Atmungsprozess verstanden wurde, dadurch verstand man innerlich in sich etwas, was zu gleicher Zeit ein Äußerliches war.“5 Dieses Empfinden des Seelischen war im damaligen Menschen auf unbewusste Weise gegeben und Rudolf Steiner führt aus, dass dieses Bewusstsein das verloren gegangen ist, nicht mehr auf die alte vergangene Weise wieder erlangt werden kann, sondern nun in bewusster Weise ganz neu wieder errungen werden muss. „Das heißt, wir müssen wiederum zum Erfassen von etwas kommen, was im Inneren des Menschen ist, was zu gleicher Zeit der Außenwelt und dem Inneren angehört, was sich wiederum übergreift.“6

Heute lebt die Seele nicht mehr in der Luft und Rudolf Steiner beschreibt, wie das Seelische deshalb nicht verloren ist, sondern in der heutigen Zeit auf andere Weise zu finden ist und zwar in den Sinneswahrnehmungen, in denen es verborgen lebt. „Da drinnen ist nunmehr das Seelische, das vor drei Jahrtausenden mit der Luft ein und ausgeatmet worden ist. Und wir müssen lernen, in einer ähnlichen Weise den Sinnesprozess in seiner Durchseelung einzusehen, wie man vor drei Jahrtausenden den Atmungsprozess eingesehen hat.“7 Wie man sich diesen Sinnesprozess vorstellen kann, der Seelisches in sich trägt, führt er weiter aus: „Wir (aber) müssen die Feinheiten unseres Verkehres mit der Welt ausbilden so, dass wir in unserem Aufnehmen der Welt nicht bloß sinnliche Wahrnehmungen haben, sondern Geistiges haben. Wir müssen uns gewiss werden, dass wir mit jedem Lichtstrahl, mit jedem Ton, mit jeder Wärmeempfindung und deren Abklingen in seelischen Wechselverkehr mit der Welt treten und dieser seelische Wechselverkehr muss für uns etwas Bedeutsames werden.“8

Im Beseeltsein unserer Sinnesempfindungen liege der neue Kreuzungspunkt zwischen einem Äußeren das gleichzeitig Inneres ist. „Von außen wirken die Weltgedanken in uns herein, von innen wirkt der Menschheitswille heraus. Und es durchkreuzen sich Menschheitswillen und Weltengedanken in diesem Kreuzungspunkte, wie sich im Atem das Objektive mit dem Subjektiven einstmals überkreuzt hat. …Wenn wir durch die Welt schreiten in dem Bewusstsein, mit jedem Blick, mit jedem Ton, den wir hören, strömt Geistiges, Seelisches wenigstens in uns ein und zu gleicher Zeit strömen wir in die Welt Seelisches hinaus, dann, dann haben wir das Bewusstsein errungen, das die Menschheit für die Zukunft braucht.“9 Rudolf Steiner betont, dass es einer größeren Stärke in der menschlichen Seelenstimmung bedarf, als sie der Mensch heute gewöhnt ist, um sich mit dem Bewusstsein zu durchdringen, das Licht als den Repräsentanten der Sinneswahrnehmungen beseelt zu denken, so wie der Mensch zu früheren Zeiten die Luft als beseelt dachte.

Anstelle des früheren Luftseelenprozess steht heute der Lichtseelenprozess. Der Luftseelenprozess kann nach den Darstellungen Rudolf Steiners durch den indischen Yoga mit seinem Streben nach Rückverbindung zu dem vergangenen Bewusstsein des Einsseins nicht mehr eintreten. Das ehrwürdige Ziel des Yoga nach einer Verbindung zur geistigen Welt, müsse heute verwandelt auf einer fortschrittlicheren Stufe des Bewusstseins neu eintreten. Es liege eine bedeutende geistige Wirkung für die Entwicklung darin, dass der Mensch nicht mehr die beseelte Luft atmen und dadurch nicht zu vergangenem Menschheitsgeschehen zurückkehren kann, sondern weiter schreiten muss in der Entwicklung neuer geistiger Fähigkeiten. Der heute gegebene Lichtseelenprozess ermögliche nicht die Rückkehr auf der Stufe eines Fühlens zur geistigen Welt, sondern verlange vom Menschen ein Aufsteigen auf die Stufe einer bewussten Erkenntnis zu der geistigen Welt. Dies bezeichnete R. Steiner mit dem Begriff des neuen Yogawillen. Aus diesen Darstellungen zu den weltenkosmischen Veränderungen wird seine Aussage über den Yoga als atavistisches Zurückgehen auf vergangene Entwicklungsstufen leichter nachvollziehbar.

1 – 9 Rudolf Steiner, „Wege der Übung“, Die alte Yoga-Kultur und der neue Yoga-Willen, S 59 – 76