Sozialer Prozess und Ästhetik beim Yogaüben

Der Ästhetik kommt in dieser Yogaübungspraxis eine besondere Bedeutung zu und man kann sie deshalb auch als eine ästhetische Bewegungskunst bezeichnen. Ziel des Übens ist weniger die Perfektion der Stellung, als vielmehr ein ästhetischer Ausdruck, der von dem Yogaübenden ausstrahlt. Gelöstheit und Dynamik zugleich verleihen der Übung eine Leichtigkeit und der Körper erscheint weder zu dominant noch ist er ausdruckslos oder entschwindet.

Man kann sich fragen, welchen Sinn es hat, ästhetische Bewegungen zu entwickeln und wie Ästhetik und Spiritualität zueinander stehen. Wenn Übungen auf ästhetische Weise ausgeführt werden, anstatt sie beispielsweise sehr leistungsorientiert zu praktizieren, dann nehmen die Sinne mit einem Empfinden der Freude an den harmonischen Bewegungen teil. Der ganze Mensch wird schöner und anziehender und die Sinnesfreude wirkt entspannend und regenerierend auf die angespannten Nerven.

Da diese Art der Ästhetik, wie sie hier beschrieben ist, nicht zufällig entsteht, bedarf es klarer Kriterien, um sie zu entwickeln. Alle Yogaübungen lassen sich entsprechend ihrer Bewegungsrichtung, also Vorwärtsbeugen, Rückwärtsbeugen, seitliche Dehnung, Rotation der Wirbelsäule oder Umkehrstellung, einzelnen Chakren zuordnen. Jedes Chakra weist eine ganz eigene Qualität auf, welche sich einerseits in der Bewegung selbst ausdrücken kann und andererseits auch als Qualität bis in das soziale Leben hinein entfaltet werden kann. Heinz Grill hat die seelisch-geistigen Qualitäten der einzelnen Chakren ausführlich beschrieben und aufgezeigt, wie man diese in der Auseinandersetzung mit den Übungen und im Zugehen auf die Inhalte erforschen und nach und nach in die Übungen sichtbar hineingestalten kann.

Der Übende setzt dabei weniger in der Nachahmung der Übungen an, sondern geht auf die Gedanken und Inhalte zu den Übungen zu und bringt sich in Beziehung zu ihnen.

Als Beispiel kann einmal die Taubenposition, kapotasana, dienen, bei welcher vor allem das 2. und das 3. Zentrum angesprochen sind. Das 2. Zentrum, svadhisthana–cakra, hat als deutliche Charakteristik das fließende und zugleich sammelnde Element.

Es wird dem Wasserelement zugeordnet und zeigt sich wie das Wasser, das am Boden dahinfließt, sich sammelt und im Verdunsten mit Leichtigkeit himmelwärts aufsteigt. Ein deutlich verbindendes, ausfließendes Element ist ihm eigen und es bewegt sich geschmeidig nah am irdischen Boden entlang, aus dieser sich sammelnden Bodennähe steigt es leicht wieder auf. Der Übende kann eine Beziehung zu diesem Geschehen aufbauen und lebendige Vorstellungen dazu bilden.

In der Taube, wie sie hier von Heinz Grill ausgeführt wird und auch anderen Yogastellungen, kann der Übende diese scheinbar konträre Dynamik ausdrücken, da sie diesem Zentrum eigen ist. Auf dem Bild gut sichtbar liegen die Oberschenkel ganz nah dem Boden auf, ohne vom Boden wegzustreben. Sie scheinen sich ganz zum Boden hinzudrängen, am Boden auszufließen, beinahe in ihn eindringen wollend. Gleichzeitig ist eine intensive und ruhende Sammlung im Beckenbereich wahrnehmbar. Aus dieser Basis steigt die Bewegung zu einem leichten Herauswölben der Wirbelsäule in die weitende Dynamik des 3. Zentrum, manipura–cakra, auf, das die verbindende Kreisbewegung der Arme zum Fuß erlaubt.

Durch das Studium und die Vorstellungsbildung zu den charakteristischen Eigenschaften dieser beiden Zentren entwickeln sich deren Qualitäten und finden ihren Ausdruck schließlich direkt sichtbar in der Stellung der Taube. Die seelisch-geistige Dimension der Chakren gestaltet sich bis in den Körper hinein aus. Da die verschiedenen Chakren kosmischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, spiegelt sich in ihnen eine universelle Ästhetik. So kann man sagen, dass Ästhetik, wie sie hier vom Begriff her verstanden wird, entsteht, wenn sich die jeweilige inneliegende Qualität eines Chakra durch rege Beziehungsaufnahme bis in die Übung bzw. den physischen Körper hinein ausdrückt.

Ruhe des Herzens, Hingabe, Heiterkeit, Mut, freie Gedankenkraft, Loslösung und Neuanfang, Grenzüberschreiten, Entscheidungskraft, leichtes Ätherfließen oder Entschlossenheit, um nur einige zu nennen, sind weitere Qualitäten einzelner Chakren. Der jeweilige ästhetische Ausdruck der Stellungen korrespondiert mit dem Sichtbarwerden dieser Qualitäten direkt in den jeweiligen Übungen. Ausgehend von diesem Verständnis, bewirkt ein spiritueller Gedanke, der sich im wiederholten Zugehen auf ihn zunehmend verwirklicht, einen ästhetischen Ausdruck in der Bewegung.