Synthese als ein “Weg von oben nach unten”

Zahlreiche spirituelle Praktiken, Übungen und Methoden sowie umfassende Schulungswege, wie etwa die Rosenkreuzerschulung oder der anthroposophische Schulungsweg von Rudolf Steiner, sind Ausdruck für das Streben, die übersinnliche und die irdische Welt zu vereinen bzw. in eine Synthese zu führen. Der Disziplin des Yoga liegt dieses Ziel seit Anbeginn zugrunde. Der Yogin sucht sich aus der Bindung an die materielle Welt zu befreien und in eine Einheit mit der geistigen Wirklichkeit zu finden.

Der „Weg von oben nach unten“ in einer Wandzeichnung im Vortragssaal des Spazio d’Incontro in Tenno/Italien dargestellt. Der Übende geht auf den geistigen Gedanken zu, nimmt ihn als Schatz entgegen, trägt ihn in die Welt hinein und beginnt mit ihm zu arbeiten, bis er in der Welt ausgestaltet ist.

In jüngerer Zeit ist in jahrelanger intensiver Forschungsarbeit erneut ein konkreter geisteswissenschaftlicher Schulungsweg entstanden. Er wurde von Heinz Grill herausgearbeitet und als „Weg von oben nach unten“ bezeichnet. Er setzt unmittelbar in einem philosophischen Gedanken oder einer geistigen Idee an und gestaltet diese in der Yogaübung oder anderen Fachgebieten, wie etwa Architektur, Ernährung, Medizin oder Pädagogik, aus. Eine kosmische Gesetzmäßigkeit findet auf diesem Wege in das Leben hinein. Heinz Grill beschreibt diese Aktivität als gebende Tätigkeit des Menschen. Die Übungen des Yoga dienen nicht dazu, einen energetischen Gewinn für sich selbst zu erzielen oder ein Gefühl der Einheit oder Erleuchtung zu erlangen, sondern sie sind vielmehr ein Übungsfeld, um eine geistige Idee zu erforschen und bis in den Körper hinein auszuarbeiten.

„Nicht dasjenige, was der Einzelne aus der Übung herausnimmt, was er für sich von der Übung gewinnen kann, sondern die Kräfte, die Aufmerksamkeit, die Hinwendung und inhaltliche Bewusstheit, die er in die Übung hineinlegt, kommt ihm als Erfolg und schließlich auch als wahre Herzenskraft entgegen.“

Heinz Grill, Die Seelendimension des Yoga, S. 108

In diesem Sinne ist für Heinz Grill der Weg der Synthese ein Weg des Gebens, auf dem der Einzelne einen Beitrag sowohl für den Kosmos als auch für die Welt leistet und dabei spirituell in seiner Persönlichkeit reift.

Im Hatha-Yoga, wie er bei uns im Westen praktiziert wird, liegt der Ausgangspunkt im Körper und den Chakren. Mittels der Yogastellungen sollen diese stimuliert und geöffnet werden, um die blockierten kosmischen Energien in der Wirbelsäule wieder ins Fließen zu bringen und damit das Bewusstsein zu einer kosmischen Sicht zu transzendieren. Ebenso dient das Auflegen von Edelsteinen oder Talismanen auf die einzelnen Chakren oder der Einsatz von Klangschalen zu deren Belebung. Auf der psychischen Ebene werden mit verschiedenen Methoden die Negativwirkungen eines gestauten Chakras, welche sich in Konditionierungen, Traumen, unbewussten Glaubenssätzen, Projektionen und Abhängigkeiten ausdrücken, bewusst gemacht, um sie langsam aufzulösen und das Chakra zu öffnen. Der Fokus richtet sich zur Wirbelsäule, entlang derer sich die Chakren befinden, und zur persönlichen Psyche. Sie stehen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Von Körper und Psyche ausgehend, wird die Öffnung zu einem kosmischen Bewusstsein beschritten.

Gedrehtes Dreieck – parivrtta trikonasana Gelöstheit, Dynamik und die beziehungsfreudige Empfindung des weiten Ausgespanntseins zwischen Himmel und Erde sind zu einem konkreten Ausdruck in der gedrehten Dreiecksstellung geworden.

Mit dem „Weg von oben nach unten“ schlägt Heinz Grill die umgekehrte Richtung vor. Die eigene Psyche wird weitgehend in Ruhe gelassen und der Körper dient als praktisches Werkzeug zur Ausgestaltung eines spirituellen Gedankens. Die Yogastellungen werden zu einem künstlerischen Ausdrucksmittel für die Idee. Der Übende nimmt sich in seiner Körperlichkeit und Psyche wahr und stellt sich als Betrachter den körperlichen Verhältnissen und den Stimmungen in der Psyche gegenüber. Mit dieser nur kurzen Objektivierung tritt eine erste Ordnung und Loslösung ein. Dann richtet er sein Hauptinteresse auf ein Thema, beispielsweise auf die körperlichen, seelischen und geistigen Qualitäten der Chakren und beginnt sie zu studieren.

Für das Sonnengeflecht oder manipura-chakra etwa sind sympathische Weite, Anmut, Interesse, Mitempfinden, Beziehungsfreude, Wertschätzung menschliche Freiheit, ausdauerndes Durchdringen der Materie, Ziele im Leben, Spannkraft für die Wirbelsäule einige hervorstechende Merkmale. Sie beschreiben die ideale Ausprägung dieses Chakra. Ausgehend von der Hinwendung an dieses Ideal und Beschreibungen dazu, erfolgt eine intensive Vorstellungsbildung zu den Qualitäten.

Kamel – ustrasana
Sympathische Weite, Anmut und Spannkraft zugleich drücken sich in der Übung aus. Die Stellung erscheint leicht, kraftvoll und hingegeben und der Körper wirkt weder dominant noch entschwindet er.

Die anfänglich noch abstrakten Begriffe weiten sich nach und nach zu lebendigen Empfindungen und die Weite und Beziehungsfreude können zunehmend real erlebt werden und drücken sich direkt in der Übung über den Körper aus. Nach anhaltender längerer Zeit der Auseinandersetzung werden diese Qualitäten zu einem eigenen Gut im Menschen und zu einem Teil seiner Persönlichkeit. Das Denken, Fühlen und der Wille sind elementare Kräfte im Menschen, die auf diese Weise geschult werden. Sie werden auch als die drei Seelenkräfte bezeichnet. Von einem Gedanken über die Empfindung bis hinein in den Willen, der tief im Körper verankert ist, erfolgt die Durchgestaltung mit geistigen Inhalten, sozusagen von oben nach unten.

Der Übende geht auf das geistige Ideal zu, nimmt die Idee als geistigen Schatz in Empfang, trägt die Idee in die Welt hinein und beginnt, mit der Idee zu arbeiten und sie konkret auszugestalten. Im Sinne des Karma-Yoga ruht er nicht eher, bis der geistige Gedanke im Irdischen zum Ausdruck kommt.