Der Lichtseelenprozess bei Heinz Grill

Mit dem Begriff „Lichtseelenprozess“ beschreibt Heinz Grill einen Weg, auf dem das Seelische im Sinne einer wachsenden Heilkraft im Menschen entwickelt werden kann. Dabei geht er davon aus, dass die Seele ein kosmisches Existent-Sein besitzt, das im Menschen individuell geworden ist. Die Seele lebt für eine kurze Zeit des irdischen Lebens in einem physischen Körper, bleibt aber eine Seinsexistenz aus Licht und Wärme, die in der Lichtsphäre des gesamten Kosmos fluktuiert. Der Begriff „Seele“ umfasst deshalb mehr als die Psyche, welche in der Psychologie synonym verstanden wird. Der Lichtseelenprozess und Erkenntnisse über die Seele als kosmische Entität rücken in ein näheres Verständnis, wenn der Einzelne sein Denken über das Materielle hinaus in eine umfassendere und universale Blickrichtung anhebt.

Der Begriff „Lichtseelenprozess“ wurde erstmals von Rudolf Steiner in einem Vortrag im Jahre 19191 geprägt, in dem er das Wirken des Seelischen in allen Sinneswahrnehmungen, welche vorwiegend in der Lichtsphäre stattfinden, darstellte. Er beschrieb ihn als grundlegenden Prozess, um in der gegenwärtigen Zeit das Seelische als ein Kosmisches neu zu erfahren und in eine bewusste Erkenntnis zu bringen. Rudolf Steiner benannte den Lichtseelenprozess nur in diesem einen Vortrag über das kosmische Verhältnis des Seelischen zum Sinnesprozess und seine wesentliche Bedeutung für die gesamte Kulturentwicklung. Heinz Grill geht ebenfalls in allen Darstellungen zur praktischen Ausgestaltung des Yoga und anderer Fachbereiche von dem gegebenen kosmischen Verhältnis des Seelischen zu den Sinneswahrnehmungen und der Lichtsphäre aus. In jahrelanger Forschungsarbeit hat er die einzelnen bewusstseinsaktiven Schritte, die sich aus diesem Verhältnis für die Entwicklung eröffnen, anschaulich beschrieben, zu einem nachvollziehbaren Schulungsweg herausgearbeitet und den Begriff des Lichtseelenprozesses neu aufgegriffen.

Ein erster Schritt zu seiner Ausgestaltung und zur Entwicklung einer Heilkraft der Seele liegt in der aufmerksamen Wahrnehmung nach außen zu den Menschen, Ereignissen und Objekten der Welt. Diese Sinneswahrnehmung erfolgt mit konkreten, beschreibenden Gedanken des objektiv Gesehenen, die dafür notwendig sind, wie folgendes Beispiel zeigt.

Jeder Gegenstand, wie etwa eine Vase, wird mit einem Begriff benannt und hinter diesem Begriff steht ein Gedanke. Nur indem der Töpfer die Vase zuerst denkt und sie sich vorstellt, kann er sie mit seinen Händen zur sichtbaren Realität formen. Ohne den Gedanken oder die Idee der „Vase“ gäbe es diese nicht und sie könnte auch von den Sinnen nicht als solche wahrgenommen werden.

Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung des Gedankens ist ein Maler, der mehr als 50 verschiedene Nuancen der Farbe rot wahrnehmen und unterscheiden kann, weil er jede Nuance mit Worten benennen und beschreiben kann. Die hinter den Worten stehenden Gedanken machen die differenzierte Wahrnehmung durch die Sinne erst möglich. Der Normalbürger kann diese Nuancen nicht bewusst wahrnehmen, weil ihm die Begriffe mit den zugehörigen Gedanken fehlen. Für Erscheinungen, für die der Einzelne keine Begriffe und Gedanken hat, besitzt er auch keine Wahrnehmung. Beispielsweise fehlt bei den meisten Menschen eine Wahrnehmung für den Lichtäther, eine im Licht anwesende Kraft, die heilsam auf den Menschen wirkt. Sie strahlt an manchen Tagen kräftiger aus dem Tageslicht heraus und an manchen Tagen schwächer und kann auch vom Menschen selbst erzeugt werden. Da die Begrifflichkeit und Gedanken dafür fehlen und daraus gebildete Vorstellungen nicht erworben wurden, fehlt auch die Sinneswahrnehmung dazu. Dieses aktive Wahrnehmen mit konkreten Gedanken bewirkt bereits ein erstes Erkraften des Menschen in seinem Ich.

Nun erfolgt ein zweiter Schritt, in dem der Gedanke wieder eine zentrale Bedeutung einnimmt. Denn das Wahrnehmen und Erkennen muss nun aus der physisch-materiellen Ebene in eine kosmische Weite hinüber finden. Dafür bedarf es Gedanken oder Ideale, die direkt in dieser kosmischen Weite ansetzen oder von umfassenderen Bezugsverhältnissen, in denen der Mensch steht, ausgehen und mit denen der Einzelne auf die materiellen Erscheinungen des Lebens blickt. Dies kann ein einfacher Gedanke sein, der einen real existierenden Zusammenhang ausdrückt. Beispielsweise interessiert sich jemand für die Wirbelsäule des Menschen. Vielleicht möchte er eine aufgerichtete, elegante Körperhaltung entwickeln, Rückenschmerzen vermindern, als Arzt und Therapeut sein Verständnis für die Wirbelsäule und deren Behandlungsmöglichkeiten erweitern, oder als Yogalehrer Erkenntnisse für eine gesunde Aufrichtedynamik erlangen. Zunächst wird er sich eine konkrete Anschauung darüber bilden, wie die Wirbelsäule mit Wirbeln und Bandscheiben aufgebaut ist, ihre Form betrachten, die Austrittskanäle der Nerven an den Wirbelkörpern wahrnehmen und die möglichen Bewegungsrichtungen nach vorne, hinten, seitlich, sowie die Drehbewegungen registrieren. All diese Wahrnehmungen beschreibt er mit präzisen Gedanken und erhält ein erstes praktisches Bild mit den physischen Gegebenheiten, den Wechselwirkungen zu den Organen und der aufrechten Haltung.

Entsprechend dem zweiten Schritt nimmt er zu diesen Überlegungen einen geistig gültigen Gedanken zu der Wirbelsäule hinzu. Eine imaginative Betrachtung der Wirbelsäule von Heinz Grill kann hierzu verwendet werden:

„Es ist günstig, wenn man die Wirbelsäule nicht zu sehr kompakt, sondern wie von Licht und feinen schwerelosen Kräften durchflutet erlebt. Sie sollte keinesfalls wie eine schwere, eiserne Stützsäule betrachtet werden. Die Zeichnung, die eine Form der Gliederung spiegelt, kann in diesem Sinne eine Art meditatives Erleben für die Wirbelsäule vorbereiten. Ferner wird durch ein Bewusstsein über die Rückenabschnitte und ihr ‘lichtes Gegliedertsein’ ein Bedürfnis nach dynamischer Aufrichtung erlebbar.“

Heinz Grill: „Die Gesunderhaltung des Brustorganismus“, S. 10

Der gedankliche Inhalt erweitert die konkreten Wahrnehmungen und zuvor erarbeiteten Vorstellungen über die Wirbelsäule mit dem Ideal einer leichten und gegliederte Dynamik.

Heinz Grill spricht von einem konkreten Arbeiten mit dem Gedanken und von einem „aktiven Denken“, im Vergleich zum gewöhnlichen Nachdenken, das als reflektierendes Denken bezeichnet werden kann. Ein neuer, umfassenderer Gedanke wird zu den Wahrnehmungen hinzugenommen und zunächst in natürlichen Vorstellungen reflektiert. In einer weiteren aktiven, denkenden Tätigkeit wird der Gedanke oder das Ideal in einer Art Konzentrationsprozess bewegt und erwogen, ohne ihn mit vorschnellen Interpretationen oder Spekulationen sofort für sich nutzbar zu machen. Heinz Grill bezeichnet den Gedanken als einen „geistigen Stoff“. Der Praktizierende richtet sich zu dem Wesen des Gedankens auf, hebt den Gedanken in seinem Wesen erst einmal an, damit dieser sich „aussprechen“ kann, bis er ihn schließlich nach einiger Zeit des Studierens realisiert und in das soziale Leben integriert. Der spirituelle Gedanke kann dann aus der Seele unmittelbar als Kraft ausstrahlen. Spirituelle Gedanken sollten, so Heinz Grill, nicht für den persönlichen, materiellen Vorteil konsumiert werden, sondern ausreichend gedacht und in ihrer Wesenheit aufgebaut werden, bis sie nach außen ausstrahlen. Er verwendet auch den Begriff des schöpferischen Prozesses im Arbeiten mit Gedanken und Idealen, in dessen Verlauf sich diese bis in die Materie hinein ausgestalten. Eine kosmische Dimension, die sich in einem wahren Gedanken ausdrückt, kann auf diese Weise eine irdische Erscheinung durchdringen, ein geistiges Ideal kann in der Materie sichtbar ausstrahlen.

Der Interessierte betrachtet konkret die einzelnen und doch in einem Rhythmus zueinander stehenden Linien des imaginativen Bildes der Wirbelsäule, er nimmt die von unten nach oben aufsteigende Dynamik wahr, die sich durch das feiner-Werden der Linien ausdrückt. Die geschwungene Form der Linien vermittelt den Eindruck eines Freierwerdens nach oben hin und eines sanften Belebtseins. Durch wiederholtes Betrachten der Linien, verbunden mit dem oben zitierten Gedanken, prägen diese sich in die Erinnerung ein und können immer wieder in der Vorstellung aufgebaut und erwogen werden, auch im Hinblick auf ihre Richtigkeit. Zu diesem Gedanken kann auch die Beobachtung hinzu genommen werden, dass im gesamten Körper beständig Lebenskräfte wirken, die es ermöglichen die Wirbelsäule entgegen der Schwerkraft aufzurichten und verhindern, dass das Körpergewicht als ziehende Last nach unten erlebt wird. Die Leichtigkeit des Aufrichtens, die in den Linien sichtbar wird und die einer gesunden Wirbelsäule eigen ist, kann nach einiger Zeit auch innerlich als dynamische Aufrichtekraft empfunden werden, da sich der Gedanke im Prozess des aktiven Denkens immer mehr zur Gegenwärtigkeit ausgestaltet. Das Aufrichten der Wirbelsäule erfolgt nun aus dieser Gegenwärtigkeit des Gedankens heraus wie aus einem inneren Impuls, der sich vom Idealbild ausgehend als eine heilsame Aufrichtedynamik im Körper ausformt. So ist es ein großer Unterschied, ob der Praktizierende die Übungen zur Steigerung seiner Vitalität benützt, oder ob er den gedanklichen Inhalt über die Wirbelsäule mit ihrem lichten Gegliedertsein studiert und denkend erfasst.

Als Frage könnte zur Betrachtung der Glockenblume hinzukommen: Hat sie einen kräftig ausstrahlenden Lichtäther? Kommt sie dem Menschen entgegen oder verschließt sie sich in sich selbst?

Für die praktische Ausformung des Lichtseelenprozesses ist es sehr bedeutungsvoll, dass der Betrachter ein Objekt mit konkreten Gedanken beschreibt, anstelle mit Bewertungen wie, „gefällt mir“, „ach wie schön“ oder „das kenne ich schon“ zu reagieren und die Eindrücke mit eigenen subjektiven Erfahrungen zu überlagern. Auch den hinzugenommenen Gedanken nimmt er in seiner Wesenheit wahr, damit er nicht vorschnell in ein Assoziieren, Interpretieren und verfestigen seiner persönlichen Meinungen abgleitet. Über die beschreibenden Gedanken tritt er vielmehr in eine wirkliche Begegnung mit dem Objekt ein. Die klar wahrnehmenden und beschreibenden Gedanken mit denen der Einzelne seiner Außenwelt begegnet, wirken wie ein Licht, das das Gegenüber oder das Objekt beleuchtet und eine seelische Berührung eröffnet, verbunden mit den in ihrer Bedeutung erwogenen und erhobenen spirituellen Gedanken, die im Seelischen ausstrahlen.

Vom Einzelnen frei gewählte Ideale und Gedanken könne in dieser konkreten Weise ausgestaltet werden. Aussagen von Rudolf Steiner oder aus guten philosophischen Werken eignen sich dafür, oder Aussagen von Heinz Grill, wie der folgende Gedanke:

„Dieser Gedanke, dass die Seele nicht nur auf den Körper beschränkt ist, sondern real im gesamten Kosmos durch die Lichtsphäre fluktuiert, schenkt dem Gemüt eine erste Offenheit und eine beginnende Möglichkeit zur Freiheit.“

Heinz Grill: „Die Heilkraft der Seele“, S. 9; siehe auch Heinz Grill: „Der freie Atem – und der Lichtseelenprozess“

Durch die schöpferische Auseinandersetzung im Konzentrationsprozess wird der gewählte Gedanke oder das Ideal über die Zeit hinweg zu einer Art Mitte im Menschen, zu einem Teil der individuellen Seele, er strahlt durch ihn aus und er kann ihn bis in die praktische Umsetzung des sozialen Lebens führen. In diesem Prozess des aktiven Denkens kann der Einzelne neue Lebenskräfte erzeugen, die für seine Umgebung und ihn selbst heilsam wirken.

  1. Rudolf Steiner: „Die Sendung Michaels“, VI. Kapitel: Die alte Yoga-Kultur und der neue Yoga- Wille, GA 194, siehe auch „Der Lichtseelenprozess bei R. Steiner“ und „R. Steiner über die alte Yoga- Kultur und den Neuen Yoga-Willen“ ↩︎