Der Lichtseelenprozess bei Rudolf Steiner

In seinem Vortag „Die alte Yoga-Kultur und der neue Yoga-Wille“ 1, den Rudolf Steiner am 30. November 1919 in Dornach gehalten hat, stellt er den Übergang von dem sogenannten „Luftseelenprozess“ zum heute gegebenen „Lichtseelenprozess“ dar. Mit Luftseelenprozess und Lichtseelenprozess beschreibt Rudolf Steiner zwei unterschiedliche Arten des menschlichen Bewusstseins für das Seelische.

Der „Luftseelenprozess“ bestand, so R. Steiner in einer vergangenen Zeit, vor etwa 4000 Jahren, in der die Luft real mit Seele erfüllt war und die Menschen mit der Atmung nicht nur Luft aufnahmen, sondern Seele einatmen konnten. Die Luft war die Seele. Dadurch hatten sie ein Bewusstsein für die Seele und ihre Präexistenz, da sie sie als etwas auch außerhalb ihres Körpers im Kosmos existierendes und damit vom Körper unabhängig Gegebenes wahrnahmen. Dies habe sich im Laufe der Jahrhunderte verändert. Heute enthalte die Luft keine Seele mehr und die Menschheit habe das natürliche Empfinden für die Seele verloren und müsse dieses wieder erlangen. Da die Luft keine Seele mehr enthält, sei der Luftseelenprozess der vergangenen Zeiten nicht mehr möglich. Rudolf Steiner spricht davon, dass das Verlorengegangene bewusst auf ganz neue Weise wieder errungen werden muss.

Dies sei für den Menschen möglich und notwendig, aber nicht indem er versucht, durch Übungen und Yogapraktiken ein vergangenes seelisch-geistiges Erleben in sich zu finden, wie es dem beseelten Atemstrom entsprach. Eine Rückkehr könne nicht gelingen, weil die Luft heute seelenleer ist. Die Seele sei heute jedoch in anderer Weise anwesend, indem sie heute die Sinneswahrnehmungen erfüllt. In allen Sinneswahrnehmungen, sehen, hören, tasten, schmecken, riechen kann etwas Seelisches wahrgenommen werden.

„Da drinnen ist nunmehr das Seelische, das vor drei Jahrtausenden mit der Luft ein und ausgeatmet worden ist. Und wir müssen lernen, in einer ähnlichen Weise den Sinnesprozess in seiner Durchseelung einzusehen, wie man vor drei Jahrtausenden den Atmungsprozess eingesehen hat.“

Und weiter sagte er:

„Wir müssen die Feinheiten unseres Verkehres mit der Welt ausbilden so, dass wir in unserem Aufnehmen der Welt nicht bloß sinnliche Wahrnehmungen haben, sondern Geistiges haben. Wir müssen uns gewiss werden, dass wir mit jedem Lichtstrahl, mit jedem Ton, mit jeder Wärmeempfindung und deren Abklingen in seelischen Wechselverkehr mit der Welt treten …“

Im Sinnesprozess lebt heute das Seelische und Rudolf Steiner differenziert dies weiter: Wenn wir einen Gegenstand oder einen anderen Menschen ansehen, entsteht ein Eindruck oder ein Nachbild im Inneren und dieses verändert sich nach und nach, es klingt ab. In diesem Prozess des Wahrnehmens und Abklingens im Inneren lebt das Seelische. Dafür dürfen wir aber mit der Wahrnehmung nicht passiv bleiben und nur nach der Erkenntnis der Naturgesetze streben, sondern Rudolf Steiner spricht davon, dass man nach den Urphänomen streben müsse.

„Wir müssen lernen, nicht immer nur von dem Gegensatz zu sprechen zwischen dem Materiellen und dem Geistigen, sondern wir müssen das Ineinanderspiel des Materiellen und des Geistigen in einer Einheit gerade im sinnlichen Auffassen erkennen.“

Würden wir also im Sinne von R. Steiner die Natur nicht mehr nur materiell sehen, sondern durchdrungen von Geistigem, dann würden wir in jedem Sinnesprozess etwas Seelische empfinden können, so wie die Menschen damals die Seele im Atemprozess wahrnahmen.

Mit jedem Sinneseindruck entsteht ein Nachbild im Inneren und das Abklingen des Nachbildes ist kein subjektiver Vorgang, sondern Rudolf Steiner beschreibt es als einen objektiven Prozess, bei dem das Bild, das man als abklingendes Nachbild empfindet, in den Weltenäther eingeprägt wird. Jeder Sinnesvorgang prägt also in den Weltenäther objektiv etwas eing. Er vergleicht dies mit dem etwas gröberen Atemprozess, bei dem nach dem Einatmen der Sauerstoffluft die Kohlensäure wieder abgegeben wird und objektiv anwesend ist. Das Abklingen, das sich im Menschen abspielt wird dadurch zugleich zu einem objektiven Weltenvorgang.

„Wenn Sie über ihren Nebenmenschen Gutes denken: es klingt ab, ist im Weltenäther als ein objektiver Vorgang; wenn Sie Böses denken: es klingt ab als ein objektiver Vorgang. Sie können nicht etwa in ihrem Kämmerchen abschließen, dasjenige, was Sie über die Welt wahrnehmen oder urteilen.“

„Wir müssen gewissermaßen, wenn wir das Licht als den allgemeinen Repräsentanten der Sinneswahrnehmungen hinstellen, uns dazu aufschwingen, das Licht beseelt zu denken, so wie es selbstverständlich war für die Menschen … früher, die Luft beseelt zu denken, weil sie das auch war.“

Dafür sei es nötig, die materialistische Vorstellung zu überwinden, nach welcher das Licht nur aus physikalischen Schwingungen besteht, sondern zu erkennen

„… dass da Seele durch den Weltenraum dringt auf den Schwingen des Lichtes.“

Rudolf Steiner, „Die Sendung Michaels“, VI. Kapitel: Die alte Yoga-Kultur und der neue Yoga-Wille, GA 194

Luft und Licht haben sich also im Laufe der Erdenentwicklung geistseelisch verändert. Und Rudolf Steiner betont, dass es darauf ankommt, hinter allen materiellen Erscheinungen, wie Luft und Licht es sind, eben dieses Geist-Seelische real zu erkennen. Für die Zukunft dürfe man nicht auf abstrakte Weise ein Materielles von einem Geistigen unterscheiden, sondern sei es notwendig in dem Materiellen das Geistige zu suchen und zugleich als dieses beschreiben zu lernen. Als Beispiel erwähnt er die Aussage in Goethes Faust: Blut ist ein ganz besonderer Saft. Man dürfe nicht bei der naturwissenschaftlichen Analyse stehen bleiben, denn es fehlt der seelisch-geistige Teil, der aber für das Verständnis des Menschen als seelisch-geistiges Wesen notwendig ist.

Nicht nur Sinnliches sollten wir mit unserer Wahrnehmung von der Welt aufnehmen, sondern auch Geistiges. Wie man sich dies praktisch vorstellen und konkret umsetzen kann, stellt Rudolf Steiner mit der Samenkorn-Meditation anschaulich dar. Für eine solche Wahrnehmung spielen einerseits die konkreten Beobachtung und andererseits geeignete Gedanken zusammen:

Konkretes Wahrnehmen und Gedanken, die eine Realität in sich tragen, bilden zusammen den Wahrnehmungsprozess. Wie das Seelisch-Geistige im Wahrnehmungsprozess erfahren werden kann, das beschreibt Rudolf Steiner ausführlich in der Einleitung zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften im VI. Kapitel über Goethes Erkenntnis-Art. Auf sehr eindrückliche Weise stellt er dar, wie man in der heutigen Wissenschaft versucht unter Ausschluss des Denkens, über die alleinige Beobachtung und Sammlung von Wahrnehmungen zu einer Erkenntnis der Welt zu kommen. Damit bleibe man auf der Ebene der mechanischen Gesetze der Welt, weil die Sinne nur die Zusammenhänge auf dieser Ebene erfassen können. Die mechanischen Gesetze repräsentierten aber nur einen Teil der Welt, sie können nicht die Gesamtidee der Welt offenbaren. Als Beispiele nennt er Forscher, die bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen gemacht haben und diese nur machen konnten, weil sie nicht nur mit den Sinnen geschaut und eine Sammlung und Bewertung von einzelnen manigfaltigen Sinneswahrnehmungen vorgenommen haben, sondern mit bestimmten Gedanken ihre Beobachtungen geleitet und Zusammenhänge mit anderen Erscheinungen hergestellt hatten.

„Man beobachtet heute endlos, speichert die Beobachtungen auf und hat nicht den Mut, sie zu einer wissenschaftlichen Gesamtauffassung der Wirklichkeit zu gestalten. …. Man will heute nur sinnlich schauen, nicht denken. Man hat alles Vertrauen in das Denken verloren.“

Das Denken müsse aber die Beobachtung durch den richtigen Gedanken leiten. Durch das Denken wird eine Wahrnehmungsfähigkeit möglich, die über die bloße Sinnesauffassung hinausgeht und deshalb seien die Objekte des Denkens nicht nur die physisch sichtbaren Dinge, sondern es sind die Ideen, die der Weltenschöpfung zugrunde liegen. Rudolf Steiner vergleicht das Denken und die Ideen mit Auge und Licht oder dem Ohr und dem Ton und bezeichnet das Denken als das Organ der Auffassung der Ideen.

„Die Objekte des Denkens sind (aber) die Ideen. Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; …“

Rudolf Steiner, „Einleitung zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften“, VI. Kapitel: Goethes Erkenntnis-Art, GA 1

In der Samenkorn-Meditation liefern die Sinne die beobachtbaren äußeren Eindrücke über den Samen und die Idee der Kräfte der Erde und des Lichtes, die unsichtbar vorhanden sind und aus dem Samen später die vollständige Pflanze hervorgehen lassen, wird denkend hinzugenommen. Mit der bewusst vollzogenen und konkreten Beobachtung verbunden mit dem Denken eines richtigen Gedankens, einer gültigen Idee, kann die Sinneswahrnehmung in ihrer Durchseelung erfahren werden und etwas Seelisch-Geistiges mit der Wahrnehmung aufgenommen werden, wie Rudolf Steiner es für den von ihm so benannten Lichtseelenprozess charakterisiert.

Diese Beobachtungen, die von richtigen Gedanken geleitet sind, führen zu inneren Bildern, die verschieden sind von jenen, welche alleine auf sinnlichen Wahrnehmung beruhen. So sind auch die Nachbilder unterschiedlich, die nach und nach abklingen und sich objektiv in den Weltenäther einprägen. Dies macht es verständlicher wenn Rudolf Steiner ausspricht:

„Wenn wir durch die Welt schreiten in dem Bewusstsein, mit jedem Blick, mit jedem Ton, den wir hören, strömt Geistiges, Seelisches wenigstens in uns ein und zu gleicher Zeit strömen wir in die Welt Seelisches hinaus, dann, dann haben wir das Bewusstsein errungen, das die Menschheit für die Zukunft braucht.“

Rudolf Steiner, „Die Sendung Michaels“, VI. Kapitel: Die alte Yoga-Kultur und der neue Yoga-Wille, GA 194
  1. Rudolf Steiner, „Die Sendung Michaels“, VI. Kapitel: Die alte Yoga-Kultur und der neue Yoga-Wille, GA 194 ↩︎