Yoga im Weltenzusammenhang – alter Luftseelenprozess und Yogapraxis heute

Nach Angaben von R. Steiner war die Luft bis vor etwa 3000 Jahren noch seelisch durchdrungen und die Menschen konnten mit jedem Atemzug Seele einatmen. Als Teil der äußeren Natur umgab sie die Menschen und wurde als eine immerwährende göttliche Existenz wahrgenommen. Die Luft war also mehr als nur Atemluft, sie war göttlich zugleich. Der Gott in der äußeren Natur strömte mit dem Atem beständig in den Menschen hinein und wurde zugleich als der Gott im Inneren erlebt. Was innen war, war gleichsam außen und schenkte eine innigliche Verbindung mit dem Kosmos. Die Menschen fühlten sich der geistigen Welt näher als der Physischen.

Weil das Göttliche im Äußeren der Luftsphäre existierte, konnte es atmend auch im Inneren des Menschen erlebt werden.

Etwa 800 v. Chr. entschwand jedoch, so Rudolf Steiner, die Beseelung der Luft und damit auch das reale Fühlen zur geistigen Wirklichkeit im Äußeren der Natur und in sich selbst. Was der Mensch mit der äußeren Natur gemeinsam hatte, fiel aus seinem Bewusstsein heraus und er fühlte sich getrennt vom Kosmos und gefangen in der physisch-körperlichen Welt. Die Yogakultur entstand als eine große Disziplin, um dieses Fühlen des Geistigen im Äußeren der Natur wieder in sich hinein zu bekommen. Alle Bestrebungen richten sich auf das Wiedererlangen des verloren gegangenen Fühlens des Gottes, der außen und zugleich innen war. Nun bezeichnete Rudolf Steiner dieses Streben des indischen Yoga als eine Illusion und spricht von der Notwendigkeit eines neuen Yogawillen. Wie kann dies verstanden werden?

Im indischen Yoga aktiviert und zentriert der Übende das prana innerhalb seines Körpers und bringt alles Äußere und alle Gedankenbewegungen zum Schweigen, damit er das Geistige bei sich selbst in seinem Inneren erfahren kann.

Zu den heute hier im Westen im Yoga vorwiegend praktizierten Übungen gehören die Körperübung des Hatha Yoga, auch asanas genannt. Sie werden überwiegend zur Verbesserung der Gesundheit praktiziert und in geringem Maße zur spirituellen Entwicklung. Mit ihrer Hilfe sollen die kosmischen Energien, prana, im Körper wieder ins Fließen gebracht werden, damit sie in der Wirbelsäule bis in das höchste Energiezentrum, das sahasrara-cakra aufsteigen und eine kosmische Erfahrung im Inneren ermöglichen. Auch die Atemübungen, pranayama, haben über die gesundheitlichen Wirkungen hinaus das Ziel, Körper und Geist durch die Atmung wieder zusammenzuführen. Die Energien werden zentriert, damit das Fühlen des Geistigen in sich selbst wieder möglich wird. Ebenso zielen die verschiedenen Meditationsübungen, dhyana genannt, darauf ab, alles Äußere, Physische zu überwinden, damit es nicht die feinere geistige Welt überdecken kann. Vor allem sollen die unruhigen Gedanken und das Denken einer vollkommenen Gedankenleere weichen, in der der geistige Raum innerlich gegenwärtig wird. Prana bedeutet Lebensatem, Hervoratmen und auch Lebensenergie. Das Ideal des seelischen Durchdrungenseins liegt den verschiedenen Praktiken zur Anregung des prana zugrunde. Yoga kann als spirituelle Disziplin bezeichnet werden, die über das Fließen des prana eine Vereinigung mit dem Höheren, mit dem Allganzen oder der göttlichen Seele anstrebt.

Die Seele ist heute aus dem Luftelement entschwunden und die Menschheit findet sich in vollkommen veränderte kosmische Verhältnisse hineingestellt, in denen auch das menschliche Bewusstsein nicht mehr vergleichbar dem damaligen ist. Im vergangenen „Luftseelenprozess“ erlebten die Menschen das Geistig-Göttliche in der Luftsphäre im Äußeren der Natur und über den Atemstrom auch im eigenen Inneren. Ein äußeres Geistiges war zugleich ein inneres Geistiges. Dieses Geistige findet sich nach Rudolf Steiner heute in einem sehr ähnlichen Prozess in allen Sinneswahrnehmungen wieder. Über die Sinne dringt etwas außerhalb des Menschen liegendes in sein Inneres ein. Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und Tasten nehmen die äußere Natur wahr, sie bewirken innere Eindrücke und ein inneres Erleben dieser äußeren Realität. Die Eindrücke sind meist von sympathischen oder antipathischen Gedanken begleitet. Beides, diese Eindrücke und die jeweiligen Gedanken werden aber nicht nur innerlich erlebt, sondern wirken, wie Rudolf Steiner es beschreibt, auch außerhalb des Menschen in den Kosmos hinein. Dieses Wirken des Seelischen im Äußeren und im Inneren über den Sinnesstrom, bezeichnete er mit dem Begriff „Lichtseelenprozess“.

Das Göttliche lebt nun im Sinnesprozess, der nach außen zu allen Erscheinungen der Natur und des Lebens gerichtet ist und es über die Sinne gleichermaßen im Inneren empfindbar macht.

Beseelte Luft einzuatmen geschah über das Zirkulationssystem im autonom und unbewusst fließenden Atemrhythmus, während die Sinneswahrnehmungen über das Nerven-Sinnes-System erfolgen und direkt das Bewusstsein ansprechen. R. Steiner beschreibt dies mit folgenden Worten:

„Nun handelt es sich darum, dass wiederum errungen werden muß, aber jetzt in bewußter Weise wiederum errungen werden muß dasjenige, was verlorengegangen ist.“

Rudolf Steiner: „Der Lichtseelenprozess“, Sechster Vortrag Dornach, 30. November 1919, GA 194

Früher konnte das Geistfühlen unbewusst über den autonom dahinfließenden Atemstrom eintreten. Heute bedürfe es eines bewussten Sinnesprozesses nach außen, der zu einem Erleben eines Geistigen im Innen und im Außen führt. Der Atemstrom unterliegt einer autonomen unbewussten Steuerung, während konkrete Sinneswahrnehmungen einer bewussten Anschauung bedürfen.

Rudolf Steiner beschreibt, wie das Rad einer beständigen Weiterentwicklung im Welten-Kosmos nie stillsteht und von einer bestehenden Stufe auf eine höhere und wieder auf eine nächsthöhere voranschreiten möchte, ohne dabei auf vorhergehende Stufen zurückzukehren. Würde der Einzelne zurückkehren wollen zu einem vom prana ausgehenden unbewussten Fühlen des seelisch-geistigen Verbundenseins, wie es vor 3000 Jahren bestand, würde er nur schwer an der Entwicklung anknüpfen können, wie sie gegenwärtig wartet. Bemühungen im Yoga, die das einmal dagewesene Fühlen auf der Basis des Lebensatems und der Lebensenergie anstreben, nennt er atavistisch. Er sieht sie als Versuchung, in der die Menschheitsentwicklung rückwärts schreiten würde. Die Entwicklungsaufgaben lägen im Ausgestalten von noch nicht dagewesenen Fähigkeiten, die der Mensch noch zu keiner vorausgegangenen Zeit entwickelt hatte. Über die aktiven und vom Bewusstsein getragenen Sinneswahrnehmungen, verbunden mit konkreten Gedanken öffnen sich demnach ganz neue Möglichkeiten zum Erleben der geistigen Realität auf der Stufe eines reifen und bewussten Erkennens. In der Samenkorn-Meditation gibt Rudolf Steiner eine Anregung wie die Sinneswahrnehmung verbunden mit konkreten Gedanken, welche die Wahrnehmung im Sinne einer Geisterkenntnis zu lenken vermögen, erfolgen kann.