Einer der wesentlichsten Inhalte der Künstlertage 2022/2023 war der Kairos. Kairos kommt aus dem griechischen und bezeichnet eine Gottheit, den Gott des rechten oder günstigen Zeitpunktes. (altgriechisch Καιρός Kairós, deutsch ‚das rechte Maß, die gute Gelegenheit‘)
Interessant ist seine Darstellung. Kairos ist ein Gott mit einem langen Haarzopf, den er untypischerweise vorne, über der Stirne trägt. Sein Hinterkopf ist kahl. Wir können den Kairos -, den rechten Moment, nur dann, wie das Sprichwort sagt, am Schopfe packen, solange er auf uns zukommt. Ist er an uns vorbeigerannt, können wir ihn nicht mehr ergreifen, weil der Gott einen kahlen Hinterkopf besitzt.
Der rechte Moment neuer Möglichkeiten hängt oft auch mit Menschen und mit Begegnungen zusammen. Manchmal ist etwas durch eine Begegnung plötzlich möglich, was einem zuvor noch nicht möglich erschien. Oft hat dieser Moment auch mit dem Thema der Verantwortung zu tun. Ich selbst würde es mit folgenden Worten bezeichnen: „Ich kann den Augenblick nutzen oder vergehen lassen. In diesem Moment sind mir unmittelbar neue Türen geöffnet, neue Räume, die ich betreten kann. Hierfür muss ich mich für etwas mutig entscheiden, dann wird es gelingen. Ich sollte von etwas Altem loslassen, etwas Neues wagen. Wenn ich den Augenblick verstreichen lasse, werde ich es später bereuen.“
Warum geschieht es jedoch oft, dass wir Chancen ungenutzt lassen?
Genau in diesem Moment, in dem einem eine neue Möglichkeit eröffnet wird, geschieht jedoch noch etwas: Man spürt in sich meist auch Widerstände heraufkommen. Es gibt Kräfte, die man vielleicht gar nicht bewusst kennt, die gegen diese neuen Möglichkeiten antreten wollen. Es können sich allerlei Widerstände in einem aufbäumen oder man legt sich Ausreden zurecht, warum dieser Moment doch besser ungenutzt bleiben sollte.
Die Überwindung von Widerständen durch das logische Denken
Wie nutzen wir eine Möglichkeit im richtigen Moment?
So steht man zwischen neuen Möglichkeiten und inneren Widerständen. Die Kunst ist es nun unmittelbar den Moment zu nutzen, auf diesen zuzugehen und ihn am Schopfe zu packen. Heinz Grill benennt diese inneren Widerstände als Bindungen, die der Mensch jedoch durch
… einige Aufmerksamkeit und Logik im Denken überwindet.
Heinz Grill, Jahresausblick auf 2023 – Teil 7
Auffällig ist, dass diese Widerstände größtenteils gegen die Notwendigkeit der Situation und auch gegen die Logik gerichtet sind. Indem man die Situation jetzt objektiv betrachtet und aus einem logischen Denken beurteilt, kann man den rechten Augenblick nutzen. Aus eigener Erfahrung würde ich sagen, dass man im Nachhinein die Unlogik der Widerstände erlebt und gar nicht versteht, weshalb man diesen einen Raum gegeben hat.
Die Bedeutung einer Begegnung mit einem spirituellen Lehrer
Interessant und erwähnenswert ist es, dass man in der Begegnung mit Heinz Grill einen spirituellen Lehrer kennenlernt, der geistige Inhalte selbst authentisch lebt. Damit tritt ebenfalls ein Moment des Kairos ein. Man lernt einen Menschen kennen, der sich selbst gewissermaßen besiegt hat und seelische und geistige Ideale verwirklicht und verkörpert. Ich würde das Empfinden dieser Begegung so beschreiben, dass einem innerlich unmittelbar bewusst wird, selbst Mensch mit einem schöpferischen Geist und einer lebendigen Seele zu sein. Damit steht man nun auch vor neuen Entscheidungen und Möglichkeiten für die Zukunft, die von einem ergriffen werden können.
In seinem Jahresausblick auf 2023 – Teil 7 beschreibt Heinz Grill das Versäumnis des richtigen Zeitpunktes. Er bezieht dabei das nachtodliche Leben mit ein. Hat man zu Lebzeiten die meisten oder wichtigsten Chancen verstreichen lassen, wird man diese versäumten Gelegenheiten im Nachtodlichen sehr schmerzlich erleben.
Goethe schreibt interessanterweise häufig über das Nutzen des rechten Augenblicks. Bei Schiller wie bei Goethe kommt die Kurzlebigkeit des Momentes und der Wert, den Augenblick zu nutzen, zum Ausdruck.
Der Augenblick nur entscheidet
Goethe, Hermann und Dorothea 5
über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke;
denn nach langer Beratung ist doch ein jeder Entschluß nur Werk des Moments.
Nutzen muss man den Augenblick, der einmal nur sich bietet.
Friedrich Schiller